Die Sage von Einhorn Tillabee
Man weiss nicht ganz genau, in welchem Land sich Tillabee momentan aufhält, oder ob sie sich überhaupt irgendwo aufhält. Einhörner können ja bei guter Ernährung und genügend Auslauf gerne über zweitausend Jahre alt werden. Aber das Alter von Tillabee ist eine Sage für sich selber.
Fest steht auf jeden Fall, dass die Fachwelt über dieses Einhorn besonders gerne staunt und sich auch fragt, ob es eine Ausnahmeerscheinung ist, oder ob Einhörner über gewisse Künste verfügen, die man lange für unmöglich hielt.
Tillabee gilt als unerschrocken, resilient, selbstbewusst und voller Lebensfreude. Nichts konnte sie je aus dieser mal stillen, mal sichtbaren Freude bringen. Selbst wenn das Einhornleben (auch das von Tillabee) durch die Jahrhunderte oftmals auch schlimme Perioden durchmachen musste. Man denke nur an die Zeit der Verfolgungen, wo Könige hohe Summen aussetzten, damit endlich ein Einhorn gefangen würde (was ja bekannterweise zum Glück nie gelang). Ganz zu schweigen von der Periode der Wilderer, die erst gar nicht versuchen wollten ein Einhorn lebend zu fangen, sondern denen es letzten Endes sogar allein nur um das Horn ging.
Die Sage aber, welche die damalige Fachwelt vollkommen durchrüttelte, ist die:
Vor langer Zeit, zur Zeit als die Legenden über Einhörner noch zahlreich von Mund zu Mund gingen, wurde bei einer Waldlichtung eine Stück Fels gefunden, auf dem seltsame Zeichen "geschrieben" waren. Alchemisten und Wissenschaftler dieser Zeit kratzten kleinste Spuren von dieser Schrift ab und kamen zu einem erstaunlichen Ergebnis. Die Spuren, so sollte es mit alchemistischen Substanzen eindeutig nachgewiesen worden sein, können nur vom Huf eines Einhornes stammen. Und jeder wusste, welches Einhorn sich bei dieser Lichtung gerne aufhielt: Tillabee.
"Der Fels der Tillabee ist ohne Zweifel die grösste Entdeckung der letzten fünfhundert Jahre".
Es existieren leider keine Aufzeichnungen mehr über diese Zeichen und der Fels wurde ja bekanntermassen beim Brand der königlichen Schatzkammern vollkommen zerstört. Eine behördliche Schlamperei, die als Einhorn-Beamtenskandal unrühmlich in die Geschichte eingegangen ist. Nur mehr die damalige Übersetzung, die erst nach mühevoller Kleinstarbeit gelang, ist erhalten geblieben. Und diese ist, selbst in Anbetracht aller anderen einhornischen Fähigkeiten, durchaus erstaunlich. Man wusste zwar bereits aus anderen Legenden, dass Einhörner sich Gedanken machen können. Aber man hatte keine Ahnung, wie weit diese Gedanken in einem Einhornkopf schweifen konnten und einige Skeptiker waren auch der Überzeugung, es ginge wohl nicht allzuweit über kleine primitive Melodien oder schlichte Sätze mit maximal drei oder vier Wörtern hinaus.
Die Sage von Tillabee dreht sich nicht nur um die Frage ob manche Einhörner so etwas schreiben können, sondern auch darum, ob sie tatsächlich solche Gedanken haben können. Je mehr Jahre vergehen, desto mehr verbannen Einhornwissenschafter, vor allem auch der jüngere Nachwuchs, diese Sage in den Bereich der Märchen. Der in der Fachwelt weltweit hoch angesehene "Club der 24 Ältesten" aber, der vierundzwanzig der renommiertesten und weisesten Einhornwissenschafter umfasst, hat diese Legende und die damalige Übersetzung ins Buch der Tillabee aufgenommen und betont, dass man sich hüten sollte, der moderneren Forschung, die immer mehr dazu tendiert gewisse Sagen in Frage zu stellen, allzuviel Aufmerksamkeit zu schenken.
Und dies ist also die Übersetzung:
Das auf-der-Welt-sein der Seele eines Einhorns ist wie ein Tag im Leben eines Kindes (es ist ein menschliches Kind gemeint; Anmerkung der damaligen Übersetzer), das hinaus in den Garten geht um die Welt zu erleben, mit anderen Kindern zu spielen, zu lachen, zu weinen, das Leben zu entdecken. Und am Abend, am Ende des Einhornlebens, kehrt das Kind zufrieden nach Hause zurück - zu seinen Eltern.
